
Der schöne Tod
Plötzlich tauchen im Bric-à-brac der Bilderwelt zutiefst verstörende Bilder auf. Sie fesseln förmlich den Blick. Dabei würde man sich am liebsten abwenden. Sie schockieren. Nicht, weil sie etwas besonders Entsetzliches zeigen. Die spektakulären Bilder des Schreckens hat eine auf Hochtouren laufende Bild-Maschine längst neutralisiert. Sondern weil sie Verdrängtes ans Licht bringen. Verborgene Ängste. Beinahe allen Menschen gemeinsam. Es sind Bilder mit der Fähigkeit zurückzublicken. So wird im Zyklus der Bilder „Underwater“ von Erin Mulvehill sichtbar, was die meisten Menschen am meisten fürchten: den Tod. Doch das unheimlichste Moment ist vielleicht: dass die Bilder von unerhörter Schönheit sind. Erin Mulvehill hat eine Reihe attraktiver Frauen fotografiert, als seien sie ertrunken. Ihre Körper versinken gerade oder treiben nach oben. Manche scheinen sich mit ihren Händen noch gegen den Tod zu stemmen. Den Mund leicht geöffnet – wie paradoxerweise bei Fischen auf dem Trockenen. Der Wasserspiegel, mit der Oberfläche des Bildes identisch, vereist zur undurchdringlichen Scheibe. Wie eine Fotografie. Einige Frauen haben ihre Augen bereits geschlossen. Sie scheinen zu träumen. Lose Haarsträhnen fließen über ihr Gesicht wie Schlinggewächse. Andere blicken nach innen, während ihr Gesicht schon zu Teilen verschwimmt. Dennoch trifft ihr gebrochener Blick ins Mark. Den größten Schock versetzt die Einsicht, dass ihr Tod unerwartet kam. Plötzlich und gewaltsam. Zu jung sind die Frauen. Gleichwohl erfasst die Künstlerin einen Moment des Übergangs – nicht mehr lebend, noch nicht tot. Das „als ob“ ihres Projekts liefert den Grund. Es sind inszenierte Bilder. Bilder, die unter allen Möglichkeiten die einzige Gewissheit im menschlichen Leben bergen: den Tod. Das Wasser verzerrt die Perspektive. Als verwendeter Bildfond (und Fläche zugleich) setzt es die Konvention der optischen Wahrnehmung außer Kraft. Die Betrachter verlieren ihren Standort aus der sicheren Distanz des Unbeteiligtseins. Sie befinden sich vor und in den Bildern. Ihre Orientierung geht verloren. Der Rahmen des Bildfensters öffnet sich. Die Anziehungskraft saugt, wer die Bilder erblickt, sanft in die Tiefe des Nirgendwo zwischen Geburt (aus dem Wasser), Tod (im Wasser) und – Wiedergeburt, ohne dass jemand beim Sehen die Schwelle übertreten kann. Über die Gesichter der scheinbar Toten hat sich Friede gelegt. Sie ruhen im farblich betörenden Sfumato der Unschärfe. Überirdisch schön. Erin Mulvehill hat der Fotografie ihre Aura wiedergegeben. Das, was der Overkill der rasenden Bild-Maschine beständig überdecken will: die Trauer über den Verlust.
Prof. Klaus Honnef
Must Haves
Titel: Erin Mulvehill | Underwater | Katalog 2011
Herausgeber: Candela Project Publishing
Auflage: 250
Jahr: 2011
Zustand: Neu
Format: 21 x 29,7 cm
Seitenanzahl: 34 Seiten
ISBN: 978-3-9814280-1-8
Art-Nr.: ID-PUB-16